Erneut startet in diesen Tagen am Inn eine großangelegte Renaturierungsmaßnahme. Doch damit die Saugbagger ihre Arbeit beginnen können, haben die Fischer wochenlang im Trüben der Freihamer Lacken gefischt - mit der Hand statt mit der Angel, um über 4000 Muscheln zu versetzen und so zu retten.
Kopfüber gehen die Volunteers auf die Suche
Wasserburg - Kopfüber hängen Alex Weber und Anton Huber von den Kreisfischereivereinen Wasserburg und Rosenheim über den Rand des Ruderbootes, die Arme bis zur Schulter tief im Schlamm vergraben - auf der Suche nach Muscheln, die sie mit bloßer Hand herausfischen, in Eimern sammeln und nach mühevollem Paddeln durch eine einsame und unwirtliche Flusslandschaft in geschützten Wasserflächen wieder aussetzen. Doch damit nicht genug: Wenn die Entlandung der Freihamer Lacke erfolgreich beendet ist und sich die Natur wieder von den Eingriffen erholt hat, geht der zeitaufwendige, Kräfte zehrende Einsatz wieder retour: Muscheln einsammeln und an ihren alten Plätzen wieder eingliedern, heißt es dann.
Auch Katharina Stöckl, eine zierliche 27-Jährige, die in ihren riesigen, bis über das Knie reichenden Gummistiefeln fast versinkt, hilft mit. Sie kümmert sich sogar beruflich um den Schutz der Muscheln in Bayern - mit einer Leidenschaft, die sie auch optisch symbolisiert: mit einem Muschelohrring. Die Fischbiologin arbeitet im Auftrag des Landesamtes für Umwelt in der Muschelkoordinierungsstelle Bayern, die an der Technischen Universität München lokalisiert ist. Seit 2009 überwacht Katharina Stöckl mit Argusaugen, dass die geschützten Tiere, die auf der Roten Liste der gefährdeten Arten in Bayern stehen, nicht weiter dezimiert werden.
Eine so groß angelegte und perfekt durchorganisierte Umsetzungs- und Rettungsaktion wie in den vier Freihamer Lacken hat die Expertin für Teich- und Malermuscheln jedoch noch nie erlebt - ebenso wenig wie eine solch "hervorragende Teamarbeit aller Beteiligten". Erneut hat sich eine Allianz für den Lebensraum Inn geschmiedet: Hand in Hand arbeiten die Aktiven der beiden Kreisfischereivereine Wasserburg und Rosenheim, Naturschutz und Wissenschaft sowie die Verbund-Innkraftwerke, die die Ökobauleitung übernommen haben und in die mehrere Jahre dauernden Renaturierungsmaßnahmen 9,6 Millionen Euro investieren.
Das Unternehmensleitbild des Verbundes schreibt einen nachhaltigen Umgang mit dem Gewässer vor. Die Wasserburger Kraftwerksmitarbeiter an der Staustufe, Sebastian Freundl, Georg Feichtenbeiner und Anton Schauer, heute die Kapitäne der Innplätte, sehen den Inn schon immer nicht nur als Energiespender, sondern auch als schützenswertes Ökosystem. Deshalb schickt der Verbund von November bis Februar wieder Saugbagger, diesmal in die vier Freihamer Lacken, die Schlamm und Sand entfernen und eine neue vielfältige Wasserlandschaft am Rande des grünen Flusses formen werden.
Möglich machen diesen maschinellen Einsatz die Aktiven der beiden Kreisfischereiverbände Wasserburg und Rosenheim. Weit über 4000 Muscheln haben die Fischer eingesammelt und in Wasserkäfigen an sicheren Stellen weitab der Bagger wieder ausgesetzt. Sogar abends seilten sich die Männer der Vereine die Innhangkante hinab, um im Wasser mit bloßen Händen nach den Weichtieren zu suchen. Vom Boot aus erwies sich dieser Einsatz als schmerzlich: Mehrere Fischer erlitten durch das stundenlange Lehnen über der Bootskante blaue Flecken, einer sogar einen Rippenbruch, erzählen die Ehrenamtlichen beiläufig.
Der Einsatz für die Muschel ist ihnen so wichtig, dass sie diese Blessuren auf sich nehmen. Denn die Weichtiere, die bis zu 30 Jahre alt werden, besitzen eine wichtige Funktion im Ökosystem Fluss. Als Larven docken sie an den Kiemen von Wirtsfischen an, schildert Katharina Stöckl den Werdegang. Später vergraben sie sich im seichten Gewässer von Altarmen und Tümpeln im Sediment, filtrieren hier das Wasser - eine Säuberungsaktion, von der wiederum die Fisch- und Pflanzenwelt profitiert.
Ist sie in Ordnung, siedeln sich auch Vögel an, schließt die Fischbiologin die Ökokette. Drohen Gewässer zu verlanden, wie die Freihamer Lacke, besteht die Gefahr, dass die Teich- und Malermuscheln mangels Sauerstoffzufuhr ersticken. Dass ihr Lebensraum bereits bedroht ist, erkennt die Expertin an der Tatsache, dass der relativ hohe Bestand am Inn relativ alt ist.
Für eine Verjüngung müssen die Lebensverhältnisse verbessert werden. Denn der seit Jahrhunderten kanalisierte Inn ist seiner Freiheit zur Ausbreitung, verbunden mit der natürlichen Schaffung von Altarmen, Kanälen und Tümpeln, beraubt worden. Der Fluss ist steriler geworden - mit negativen Folgen für Tiere und Pflanzen. Entlandung und Renaturierung sollen wieder eine vielfältige Landschaft am Wasser schaffen.
Doch um dieses Ziel zu erreichen, muss der Ökoraum erst einmal einen Angriff in Kauf nehmen. Den Einsatz der Bagger hätten die Muscheln vor Ort nicht überlebt, deshalb durften sie - unterstützt von menschlicher Hand - übergangsweise auswandern an einen sicheren Ort fernab der Maschinen.
Dass sich ein solcher Einsatz lohnt, haben die Beteiligten bereits bei der ersten Renaturierungsmaßnahme am Inn im Bereich des europäischen Vogelschutzgebietes Attler Au erfahren. Der Wasserburger Fischer Weber, der hier bereits vor 30 Jahren als kleiner Bub die Angel auswarf, hat den Niedergang der Fisch-, Vogel-, Amphibien- und Pflanzenwelt miterlebt. Und er hat in diesem Frühjahr überglücklich registriert, wie viele Fische sich wieder zum Laichen angesiedelt haben, dass der Eisvogel und seltene Amphibien zurückgekehrt sind. Gute Aussichten auch für die Muscheln, meist unsichtbar in trüben seichten Gewässerzonen für den Menschen, jedoch wertvoll für das Ökosystem Fluss
OVB 22.10.12